Von Karin Weiß
An Ideen hat es ihm noch nie gemangelt, aber die besten hat er in 1400 Meter Höhe in einer Berghütte, die er regelmäßig aufsucht, weil ihm dort zuverlässig ein Trichter aus dem Kopf wächst. Wenige Tage genügen, und Musikwerke, die er plötzlich sonnenklar als Einheiten vor sich sieht, werden in seiner Vorstellung bereits Interpretationen. Konzerte, von denen später nur Live-Mitschnitte auf CD gebrannt werden, weil nur so der Funke überspringen kann. Konzerte, denen zu lauschen wir die Möglichkeit haben, weil es Leute gibt wie ihn, Leute wie die Musiker, und glücklicherweise auch Sponsoren.
Ich bin ein absoluter musikalischer Laie. Vier Jahre meiner ansonsten fröhlichen Kindheit wurden überschattet von allwöchentlich stattfindendem Blockflötenunterricht – vergebens. Nun sitze ich zusammen mit lauter Fachleuten in punkto Musik. Ein sterbenslangweiliger Abend? Nein. Im Gegenteil, füge ich hiermit ausdrücklich hinzu. Warum nicht? Wir sitzen bei Wallingers.
Vielleicht trägt zu meiner plötzlich erweckten Neugier bei, dass ich ernstzunehmenden Musikern schon immer eine Art Hochachtung entgegengebracht habe, wahrscheinlich aus meinem eigenen Manko heraus. Vor allem aber ist es so überraschend leicht, Peter Wallingers außerordentliches Engagement nachzuvollziehen. Und das stand zweifelsfrei auch schon am Anfang der ganzen Entwicklung der sueddeutschen kammersinfonie bietigheim, um die es an diesem Abend gehen soll, denn ich soll darüber etwas schreiben.
Peter hat als Schulmusikpädagoge Großes geleistet, wie ich ahne. Auch aus dem Bedürfnis heraus, die zum Teil außerordentlichen Talente des Schulorchesters zu fördern, sind im Laufe der Zeit Projekte entstanden, welche 1984 zur Gründung der sueddeutschen kammersinfonie bietigheim geführt haben. Seinen begeisterten Schilderungen ist darüber hinaus zu entnehmen, dass ihn noch etwas anderes an- oder umtreibt, das Gegenteil dessen, was man gewöhnlich „einen Job machen“ nennt. Nennen wir es: persönliches Engagement, Frische, Kreativität, Elan und nicht zuletzt soziale Verantwortung. Wenn das jeder machen würde … Hier ist dieser zu oft benutzte Satz wirklich einmal angebracht: Fassen wir uns auch ruhig mal an die eigene Nase und engagieren wir uns ebenfalls!
Außergewöhnlich engagierte Menschen braucht Peter Wallinger für seine Projekte, angefangen beim Förderverein, der aus der Elternschaft der Schüler des Schulorchesters gewachsen ist. Vor allem aber hat ihn das Glück oft genug zu besonderen Musikern und Solisten geführt, bei denen er spürt, dass da etwas zündet. Das ist es, was er transportieren möchte: „Es gibt Momente, wo es einfach stimmt, alle 40 Musiker merken es,“ schwärmt er und setzt lakonisch hinzu, „zumindest 38“.
Durch die Auswahl der Musiker formt oder komponiert er sozusagen den Klangkörper, was heißt: Instrumente sollen sich ergänzen und müssen optimal kombiniert werden. Alles ist ein Zusammenspiel der Temperamente. Eine Truppe aus bis zu 13 Nationalitäten mit wechselnden Solisten von Weltniveau ist auf diese Weise entstanden. Innerhalb des Orchesters existiert ein hervorragendes Bläser-Quintett und das äußerst erfolgreiche japanische Lotus String Quartet, welches den Vergleich zum berühmten Tokyo String Quartet nicht scheuen muss.
Wovon der ambitionierte Laie oder der regelmäßige Konzertbesucher aus dem untergehenden Bildungsbürgertum möglicherweise nichts ahnt, läuft im Prinzip folgendermaßen ab: Soll ein Konzert der sueddeutschen kammersinfonie bietigheim stattfinden, heißt das nichts anderes, als dass sich die einzelnen handverlesenen Musiker aus verschiedenen Orten und Orchestern Deutschlands und des europäischen Auslands zu den Konzerten samt Proben einfinden und das nicht etwa, weil ein auch nur halbwegs angemessenes Honorar winkt. (Vielleicht aber wegen des bereits zur Legende gewordenen, von eifrigen Helfern aus dem Förderverein während der Proben kredenzten Pausen-Büffets. Mancher Musiker, munkelt man, komme nur deshalb.) Als Publikum sitzt man ja im Konzertsaal und hört Musik. Diese Musik zu machen, ist Arbeit. Arbeit wird für gewöhnlich bezahlt und zwar erfreulich oft nach Leistung. So meint man oder hofft es zumindest. Ich staune also nicht schlecht über das, was höchst qualifizierten Musikern bei solchen freien Projekten an materiellem Lohn zugedacht werden kann. Fassen wir uns also vielleicht lieber nicht an die Nase, sondern ans Portemonnaie!
Peter erzählt derweil von seinen Schülerkonzerten. Ich stelle mir vor, wie übermüdete Teenager sich nach vielfacher Ermahnung durch den bereits abgestumpften, übergewichtigen Musiklehrer widerwillig ihrer schon festgewachsen geglaubten Ohrenstöpsel des MP3-Players entledigen und in der Unterseite ihres Sitzes eine Endlagerstätte für ihren Kaugummi finden, um die nächsten anderthalb Stunden einer Kulturleistung beiwohnen zu müssen, die „irgendwie nicht ihr Ding“ ist. Doch die Rede ist erstaunlicherweise nicht von den üblichen Verdächtigen, denen man so gerne ein wenig Kultur, die nicht ihr Ding ist, einflößen möchte (was sich in dieser Phase des Lebens meist als vergeblich erweist), sondern von den Klassen eins bis fünf, Grundschüler also und solche, die es gerade noch waren. Und es wird nicht der „Karneval der Tiere“ oder „Peter und der Wolf“ zum zehntausendsten Mal gespielt. Es gibt anderes, was Kinder interessieren kann. Wie ich mit Staunen höre, wissen die Kinder die Qualität der Musik, wenn sie denn vorhanden ist, durchaus zu schätzen, und die besteht hier in höchstem Maße, denn nur das Allerfeinste wird präsentiert. Wer glaubt, Kinder könnte man mit Anfängern abspeisen, der kann sich im Experiment vom Gegenteil überzeugen. (Eine Erkenntnis, die übrigens auch Sir Simon Rattle schon zu außergewöhnlichen Projekten bewogen hat.) Warum nur wusste davon meine Flötenlehrerin nichts?
Er sei kein Dirigent im eigentlichen Sinne, erklärt mir Peter. Typisch Alt68er, denke ich amüsiert, zu antiautoritär um zu sagen, „wo es lang geht“. Aber natürlich irre ich mich. Er stellt, wie er mir schildert, schon ein Jahr im Voraus Programme zusammen aus der fast unendlichen Fülle von Musik, dabei immer wieder überraschend Verschiedenes, auch Unbekanntes kombinierend, stets den Zusammenhang oder besser -klang im Ohr. Ein Stück soll zum nächsten führen: Das Konzert entsteht in seinem Kopf. Sodann bearbeitet er die Partituren (die er übrigens liest wie Krimis), indem er Zeichen hineinkritzelt, die dem Musiker signalisieren sollen, „wo die Musik entlanggeht“. Dies ist zwar eine etwas ungewöhnliche, aber sehr wirksame Methode, das Orchester zu einer einheitlichen Interpretation zu führen, und alle Beteiligten sind offenbar mit dieser Vorgehensweise zufrieden, wobei er durchaus für Anregungen seitens der Musiker offen ist. Wenn die Vorarbeit gemacht ist, steht im Prinzip schon das ganze Konzert. Ich stelle mir vor, dass die Instrumente wie Schauspieler sind, die verschiedene Rollen spielen. Vielleicht ist er eher Regisseur als Dirigent. Auf alle Fälle aber ist er ein außergewöhnlicher Mensch. Mensch Peter, gut, dass es Berge gibt.